Warum man unsere Altersempfehlungen ernst nehmen sollte
Im Jahr 2015 wird das Kinder- und Familientheater 15 Jahre alt. Angefangen hat es mit „Dschungelbuch“, „Urmel aus dem Eis“, „Pettersson und Findus“ und „Räuber Hotzenplotz“. Alles Produktionen, die sich primär für Kinder ab 5 Jahren geeignet haben. Erst mit dem Beginn des Schultheaters gab es Stücke, die so spannend und intellektuell nicht einfach zu erfassen waren, dass die Altersempfehlung bei über sechs Jahren lag.Von Anfang an war uns eine Altersempfehlung immer sehr wichtig.
Wir leben in einer Zeit, in der auch für jüngere Kinder der Zugriff auf alle Medien kein Hexenwerk ist. Es gibt schon heute 5-jährige Kinder, die mit einem Computer mindestens so gut umgehen können wie ihre Großeltern. Vom Umgang mit dem Fernseher ganz zu schweigen. Und diese Kinder kommen spätestens wenn sie schreiben können ohne die Kontrolle der Eltern in den Medien an Eindrücke heran, die ganz ohne Zweifel für sie nicht zu verarbeiten sind. Das mag mit ein Grund sein, warum Altersbeschränkungen oder Empfehlungen bei Filmen oder auch im Theater immer niedriger angesetzt werden. Die Erwachsenen trauen den Kindern aus Gewohnheit alles zu. Wahrscheinlich sitzt ein großer Teil der Kinder unserer Gesellschaft auch regelmäßig vor dem 20:15 Uhr Krimi, weil die Eltern sich daran gewöhnt haben.
Bei uns im Kindertheater ist, ein Glück, immer noch eine völlig andere Wahrnehmung möglich. Alle befinden sich in einem Raum, Schauspieler wie das Publikum, denn es ist klein und überall gleich hell – und alles passiert im Moment ganz spürbar nah, manchmal auch ganz laut und manchmal ganz ganz leise. Alle Zuschauer hören die Schauspieler atmen, sehen sie schwitzen und fühlen wie sie fühlen, alles ist einfach Realität so wie das Leben selbst. Vor dieser Realität kann sich kein Kind verschließen, egal wie abgebrüht es durch Bildschirmmedien ist. Diese Realität geht unter die Haut, löst Distanz auf, zieht in die Geschichte und jedes Kind wird so selbst ein Teil der Geschichte. Völlig identifiziert mit der Hauptfigur lebt es für eine gute Stunde die Konflikte, die Probleme, die Gefühle dieser Hauptperson.
Es gibt in allen Stücken, auch in denen, die sich für die kleinen Kinder eignen, spannende Situationen. Das Urmel soll entführt werden, Findus wird vom bösen Stier verfolgt, Seppel wird von Hotzenplotz bedroht und Mogli wird vom Tiger angegriffen. In diesen Situationen kriechen viele kleinere Kinder ihren Eltern mal kurz auf den Schoß. Aber ohne diese spannenden Situationen funktioniert ein dramatischer Stoff nicht.
Eine gute Geschichte braucht einen Bogen, Konflikte und Situationen, in denen die Hauptfigur wie ein Held siegen kann oder gerettet wird. Wenn es vorher keine Spannung gab, dann macht auch ein Happy End keinen Sinn! Den inhaltlichen Zusammenhang, und damit die Beziehungen und die Dramaturgie, verstehen Kinder aber erst ab einem Alter von ungefähr sechs Jahren. Vorher nehmen die meisten Kinder Stimmungen, Bilder und Gefühle wahr aber ohne den kausalen inhaltlichen Zusammenhang zu verstehen, der diese Phänomene verursacht hat. Erfassen Kinder aber den Zusammenhang nicht, kann auch ein lautes freudiges Wolfsgeheul, ein Freudenschrei von Findus weil Henni ein Ei gelegt hat oder ein lautes Gute-Laune-Lied schon durchaus bedrohlich wirken und Angst und Schrecken auslösen.
Auszug aus der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK ab 0 freigegeben)
Kleinkinder erleben szenische Darstellungen unmittelbar und spontan. Ihre Wahrnehmung ist vorwiegend episodisch ausgerichtet, kognitive und strukturierende Fähigkeiten sind noch kaum ausgebildet. Schon sehr spannende Szenen oder eine laute und bedrohliche Geräuschkulisse können Ängste mobilisieren oder zu Irritationen führen. Kinder bis zum Alter von sechs Jahren identifizieren sich vollständig mit der Spielhandlung und den Figuren. Vor allem bei Bedrohungssituationen findet eine direkte Übertragung statt. Gewaltaktionen, aber auch Verfolgungen oder Beziehungskonflikte lösen Ängste aus, die nicht selbständig und alleine abgebaut werden können. Eine schnelle und positive Auflösung problematischer Situationen ist daher sehr wichtig.
Ab sechs Jahren entwickeln Kinder zunehmend die Fähigkeit zu kognitiver Verarbeitung von Sinneseindrücken. Allerdings sind bei den Sechs- bis Elfjährigen beträchtliche Unterschiede in der Entwicklung zu berücksichtigen. Etwa mit dem neunten Lebensjahr beginnen Kinder, fiktionale und reale Geschichten unterscheiden zu können. Eine distanzierende Wahrnehmung wird damit möglich. Bei jüngeren Kindern steht hingegen noch immer die emotionale, episodische Impression im Vordergrund. Ein sechsjähriges Kind taucht noch ganz in die Spielhandlung ein, leidet und fürchtet mit den Identifikationsfiguren. Spannungs- und Bedrohungsmomente können zwar schon verkraftet werden, dürfen aber weder zu lang anhalten noch zu nachhaltig wirken. Eine positive Auflösung von Konfliktsituationen ist auch hier maßgebend.
Wenn wir im Theatersommer den Eltern den Besuch eines Kinderstückes erst ab 5 Jahren empfehlen, orientiert sich das an den Richtlinien der FSK. Denn wir möchten verhindern, dass kleine Kinder unsere Kinderstücke „durchhalten müssen“. Es kommt nämlich vor, dass Eltern ihren Kindern die Augen und Ohren zu halten oder ihnen dauernd erklären, dass sie eigentlich nicht sehen, was die Kinder sehen, sondern in den Kostümen Schauspieler stecken, die ja nur spielen, was die Kinder so ergreift und dass alles, was die da spielen nicht echt ist. Letzteres ist das Schlimmste, was passieren kann, wenn zu kleine Kinder von ihren Eltern über Theater aufgeklärt werden, damit sie einen Abstand aufbauen können, um es auszuhalten. Denn dieser Vorgang macht das Ziel des Theaters kaputt, macht die erste Theatererfahrung zu einer schrecklichen Erfahrung ohne jeglichen Sinn.
Deswegen bitten wir unser Publikum, unsere Altersempfehlungen ernst zu nehmen und die Kinder, die zu klein sind, nicht mitzubringen, auch wenn das für manche Familien mühsam ist. Diese Bitte betrifft auch alle Babys. Babys bekommen von den Vorstellungen nur den Lärm mit und haben überhaupt nichts vom Besuch eines Kinderstückes.
Christiane Wolff